Beispiel für eine Fotoquelle
Musterbeispiel zur Erschließung
1. Äußere Informationen nutzen
Das Bild stammt aus dem Jahr 1936. Durch den Einleitungstext erfährt man, dass der Titel „Migrant Mother“ lautet. Die Abbildung ist ein Schwarz-Weiß-Foto, das die Fotografin Dorothea Lange 1936 persönlich im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten aufgenommen hat.
2. Inhalte erfassen
Man kann es in einen hellen Vordergrund und einen dunkleren Hintergrund einteilen. Im Mittelpunkt kann man eine etwa 30-jährige Frau erkennen, die ärmlich gekleidet ist und ein Baby auf dem Arm hält. Sie stützt ihr Kinn in die rechte Hand und blickt gedankenverloren in die Ferne. Links und rechts von ihr kann man zwei Kinder erkennen, die ihr Gesicht abgewandt haben und sich an die Frau schmiegen. Im Hintergrund sieht man eine Zeltbahn, die offensichtlich die Behausung der Familie darstellt. Die Darstellung der Frau wirkt insgesamt hoffnungslos.
3. Das Material einordnen
Die Abbildung stammt aus der Zeit der „Großen Depression“, also der Weltwirtschaftskrise, die in den USA von 1929 bis zum Anfang der 1940er-Jahre dauerte und die durch einen weltweit starken Rückgang der Wirtschaftsleistung sowie Massenarbeitslosigkeit und Massenverelendung gekennzeichnet ist. Ab 1933 versuchte der Präsident Franklin D. Roosevelt mit seiner Politik des New Deal durch die Ausweitung staatlicher Ausgaben die Wirtschaft wiederzubeleben sowie die Folgen der Krise für die Bevölkerung durch Sozialmaßnahmen zu mildern. Die Fotografin Dorothea Lange bekam von der Regierung den Auftrag, das Elend einzelner Gruppen zu dokumentieren, um bei der Bevölkerung die Akzeptanz für die Maßnahmen des New Deal zu erhöhen. Die Zielgruppe war also die amerikanische Mittelschicht, die als Wählergruppe Roosevelts vom Sinn seiner Politik überzeugt werden sollte, da sie vor allem finanziell betroffen war. Das Foto war also ursprünglich Teil einer Serie von Propagandafotos. Die Mutter auf dem Foto war amerikanische Ureinwohnerin und hat als Wanderarbeiterin am Existenzminimum gelebt.
4. Das Material deuten
Man weiß heute, dass es sich bei dem Foto nicht um einen spontanen Schnappschuss, sondern um eine gestellte Aufnahme handelt. Die Fotografin hat mehrere Aufnahmen der Mutter mit ihren Kindern erstellt und klare Regieanweisungen gegeben. In der von ihr veröffentlichten Aufnahme ist nur das Gesicht der Mutter voll zu erkennen, deren gedankenverlorener Blick die Hoffnungslosigkeit ihrer Existenz besonders unterstreichen soll. Dadurch soll beim Betrachter Mitleid mit der Familie geweckt werden. Die Abbildung wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder neu in verschiedenen Zusammenhängen abgedruckt und von Künstlern stark verändert. So ist sie schließlich zu einer symbolhaften Darstellung (Ikone) geworden. Sie steht in späteren Darstellungen nicht mehr für das Elend der amerikanischen Urbevölkerung, aus der die Migrant Mother stammt, sondern für die Fähigkeit einer Mutter der Mittelschicht, Schwierigkeiten überwinden zu können. Schließlich wird sie in einigen Darstellungen sogar zum Vorbild einer sich um die Familie sorgenden Mutter.
Das Foto zeigt besonders eindrücklich, wie der erste Eindruck beim Betrachten zu Fehlinterpretationen verleiten kann, wenn man darauf verzichtet, Abbildungen in den historischen Zusammenhang einzuordnen.